In der Weihnachtsgeschichte ist überliefert, dass Josef mit seiner Familie nach Ägypten floh. Nachdem die Weisen aus dem Morgenland gegangen waren, erschien ihm ein Engel im Traum, der ihm befahl, nach Ägypten zu fliehen, da König Herodes dem Kind nach dem Tode trachte.
Es wird erzählt, dass Herodes alle kleinen Jungen töten ließ, denen seine Soldaten habhaft werden konnten. In der Hoffnung, dass Jesus dabei war.
Es bleibt unserer Phantasie überlassen, ob es sich dabei um Einhundert, Hunderte oder sogar Tausende von kleinen Jungen handelte. Das ist das Wunder-bare an Geschichten. Unser Geist erschafft die Bilder in individueller und einzigartiger Weise. Keine vorgegebenen Bilder erscheinen auf einem Bildschirm und lassen unsere Phantasie mehr und mehr verkümmern.
Doch zurück zu unserer Geschichte.
Gibt es eine Schuld von Josef, seiner Familie am Tod dieser vielen Jungen? Waren sie Bauernopfer, wie in einem Schachspiel? Wohl kaum. Leben ist nicht planbar und die Entwicklungen und Folgen unserer Taten nicht absehbar. Um beim Schach zu bleiben, gute Schachspieler und große Meister sehen und planen viele Züge voraus. Das Spiel in seiner Entwicklung entfaltet sich vor ihrem inneren Auge. Und doch kann es ganz anders kommen.
So verlor der Weltmeister Ding Liren gegen den 18-jährigen Gukesh Dommaraju, weil er einen Fehler machte.
Leben ist unendlich viel komplexer. Schon kleinste, kaum beachtenswerte Ereignisse, können den Lauf der Welt dramatisch verändern. Im Zen bemühen wir uns, die Folgen unserer Handlungen zu bemerken. Wir üben, das Leiden zu sehen, das wir ständig produzieren. Auf diese Weise verändert sich nach und nach Welt. In uns und außerhalb von uns. Denn es ist dieselbe Welt. Kein Unterschied.
Wenn Josef mit dem kleinen Jesus flieht, geht die Familie damit ihrer Bestimmung entgegen. Sich bewusst zu opfern, um damit den Tod der vielen Kinder zu ersparen, hätte keinen Sinn gemacht. Unter diesem Aspekt können wir Welt mit ganz anderen Augen betrachten. Kriege, Flüchtende, Diktatoren, Demokratien. Bei letzteren könnte man befürchten, dass sie sich bereitwillig selber abschaffen möchte. Ist es am Ende gleich? Wir sterben alle. Niemand entkommt Gevatter Tod. Kein Christus und kein Buddha. Wie tröstlich. Wahrscheinlich die einzige Sicherheit und Gewissheit, die es im Leben gibt. Paradoxerweise fürchtet sich der Mensch davor, wo er doch ständig auf Sicherheit bedacht ist. Seine vermeintlichen Sicherheiten sind Illusionen. Früher oder später platzen sie, waren nur ein schöner Traum. Diese eine, absolute Sicherheit, bereitet ihm dagegen Angst. Was für eine Ironie. Dabei könnte der Mensch sich durch diese absolute Sicherheit frei von Angst in dieses Leben fallen lassen. Einfach nur, um zu leben. In jedem Moment. Das ist das Allerheiligste, das es gibt.
„Ich gehe meiner Bestimmung entgegen.“ Ein Satz, der sich sehr heroisch anhört und etwas von großem Heldenmut in sich trägt. Doch ist er wohl mehr in einem Fantasyfilm zu Hause, als im wirklichen Leben. Diese Aussage impliziert ein Ziel, dass es irgendwo und irgendwann zu erreichen gilt. Illusion und Ausrede zugleich. Wir Menschen lieben Ausreden. Deuten großspurig unseren großen und bedeutenden Willen an, der aber völlig unverbindlich in eine ferne Zukunft verschoben wird, und am Ende der Zeit zum Opfer fällt. Oder dem Feierabendbier, das Abend für Abend unermüdlich an die Tür unseres Geistes klopft. Natürlich nur als Metapher gesehen.
Tatsächlich erfordert es großen Heldenmut, sich auch nur diesem Gefühl von Bestimmung anheim zu geben. Dieser Ahnung, dass es etwas in mir gibt, was einem göttlichen Auftrag entspricht.
Selbst wenn es nur eine Idee ist, erfordert diese bereits Mut, wenn ich diesen Gedanken, diesen Geist in die Welt bringen will. Das ist Inkarnation. Der Geist wird Fleisch. In manchen Qigong-Übungen sprechen wir von der großen Hochzeit. Die Vermählung von Himmel und Erde, die sich liebevoll im Herzen vollzieht.
Es ist der einzige Ort, an und in dem sich Vater Himmel und Mutter Erde begegnen können. Die Sehnsucht der beiden nacheinander ist ohne den Menschen nicht zu stillen. Wir als Menschen sind der heilige Ort, in dem ihre Verschmelzung stattfindet.
Einer Bestimmung zu folgen, bedeutet, aus seinem Schneckenhaus hervorzukriechen. Sich der Welt zu zeigen. In einer Gruppe sitzt du nicht mehr an der Wand. Du stehst auf, stellst dich in die Mitte und hältst deine Rede. Falls du hoffentlich der Welt etwas zu sagen hast. Ansonsten sei lieber still. Geschwätz gibt es schon genug. Fürchte dich nicht. Folge deinem inneren Ruf, deiner Bestimmung. Mit all deinem Mut. Schritt für Schritt. Du wirst staunen, was das Leben für dich bereit hält und wie du selbst zum Gestalter von Welt wirst. Im Innen wie im Außen.
Fürchte dich nicht vor Scheitern. Nichts kann wirklich misslingen. Das ist nur ein Gedanke in deinem Kopf. Eine Bewertung. Wirklichkeit ist lediglich Vollzug. Leben.
Ist ein Buddha gescheitert, weil geschrieben steht: „Und Tausende standen auf und gingen.“ Einem Jesus ging es ebenso. Am Ende seines Lebens hatte er gerade mal zwölf Jünger um sich versammelt. Einer davon verriet ihn sogar. Für 30 Silberlinge. War das ein Scheitern? Auch in der heutigen Zeit hören die Menschen lieber auf Lügner und Demagogen. Der Mainstream ist verlockend. Wie schnell verkaufen wir unsere Seele? Und für was?
Wenn wir unserer Bestimmung folgen, werden wir mehr und mehr frei davon. Auf diesem Weg kommen wir mit einer tiefen Wahrheit und Wirklichkeit in Kontakt, die sich nicht mehr beirren lassen.
So wünsche ich uns allen Mut und Vertrauen, unsere Bestimmung zu erkennen, sie zu hören und ihr zu folgen. Frei von aller Schuld. Für uns selbst, für unsere Familien, für die ganze Welt.
Euch allen wünsche ich ein frohes, friedliches und besinnliches Weihnachtsfest.
Herzlichst
Euer Manfred